Die Mutmacher

SeniorPartner berichten aus ihrer Arbeit

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das kann“

In unseren Workshops trainieren wir regelmäßig das freie Reden. Wir stellen die Aufgabe, ein kurzes Referat z. B. über die Schule zu halten, und geben dazu Texte und Bilder vor.

Die Schülerinnen und Schüler haben 10 Minuten für die Vorbereitung, dann tragen sie vor. Es kommt darauf an, nicht nur das Vorgegebene wiederzugeben, sondern eigene Worte zu finden und eigene Eindrücke und Erlebnisse zu schildern. Beim letzten Training waren 2 SeniorPartner und 12 Jugendliche beteiligt. Die ersten Referenten waren albern und unkonzentriert. Bald schon wurde es ernster, das Forum ruhiger und die Ergebnisse ansehnlich. Ziemlich gegen Ende kam eine Schülerin an die Reihe, der nicht vortragen wollte (ich kann das nicht). Wir überredeten sie und sie hielt das beste aller Referate. Donnernder Applaus. Es war klar, dass da ein redebegabter Mensch vor uns stand, der aus dieser Begabung etwas machen kann. Nach dem Training kam sie mit Tränen in den Augen zu uns und bedankte sich für dieses Erlebnis: „Ich hätte nie gedacht, dass ich das kann.“ Wir haben uns sehr gefreut, denn hier ist es wieder mal gelungen, Mut zu machen!

„Die zwei Frédérics“

Meine Gruppe bestand aus einer Russin, einer Marokkanerin mit Kopftuch, einem Afghanen und einem Duo aus Polen. Spannend, spannend! Leider entpuppte sich das Duo, ein ziemlich großspuriger Frédéric und sein Freund, als echtes Chaos-Duo! Ihr Drang nach Blödsinn war unbegrenzt. Sie überboten sich dabei gegenseitig. Arbeiten sei uncool, war ihre Devise mit anerkennungsheischendem Blick auf die beiden Mädchen. Mein Ehrgeiz erwachte, auch das Chaos-Duo irgendwie zum Arbeiten zu bringen.

Eines Tages erzählte ich ihnen, ich sei Langstreckenläufer. Plötzlich fragte Frédéric, ob er mit mir joggen könnte. Verblüfft erfuhr ich, dass er acht Kilometer in 36 Minuten schafft. Ich schlug vor: Statt Joggen Bergauflaufen im Hochtaunus (Bergauf bin ich mit meinen 70 immer noch ganz gut). Gesagt, getan! Unter dem Altköniggipfel war er dann genauso erledigt wie ich. Während des Abstiegs öffnete der „zweite Frédéric“ plötzlich seine gedanklichen Schleusen mit unzähligen Fragen über Politik, die Deutschen, den Islam und das deutsche Schulsystem. Ich fiel aus allen Wolken über sein vielfältiges Interesse. Keine Frage, dieser „zweite Frédéric“ gefiel mir! Ein zweiter Lauf brachte dann die Wende. Frédéric arbeitete in den Workshops mit und machte so große Fortschritte in der Hauptschule, dass seine Eltern ihn auf die Realschule versetzen ließen. Das dortige Niveau war für ihn ein Schock. Quasi über Nacht war seine Großspurigkeit wie weggeblasen. Er bat mich, ihm zu helfen, sein Deutsch zu verbessern. Nun sitzen wir regelmäßig zu zweit zusammen und lernen konzentriert. Wenn er in der siebten und achten Schulstunde müde vor mir sitzt und dann manchmal daran zweifelt, die Realschule durchzustehen, sage ich ihm immer wieder: Du kannst es schaffen! Ich mache ihm Mut und ich glaube an ihn und er spürt das! Hoffentlich behalte ich Recht!

„Was kann ich verdienen, was kostet das Leben?“

Dem einen oder anderen Jugendlichen entgleitet schon mal sein Prepaidkonto auf dem Handy, und die Eltern müssen einspringen. Aber in der Regel ist es ja so, dass über das Taschengeld hinaus, die Jugendlichen keine Verfügung über Geld und Werte haben. Im schlimmsten Fall lehnen Eltern die angesagte Markenjeans ab, weil zu teuer oder so ähnlich.

Nicht verwunderlich, weil die meisten unserer Jugendlichen keine Vorstellungen von Lebenshaltungskosten haben. In einem unserer Workshops rechnen wir deshalb Lebenshaltungskosten gegen Einkommen. Zunächst erforschen wir das Brutto- und Nettoeinkommen für den gewünschten Beruf (Was kann ich verdienen?). Und dann kommt der spannende Teil des Workshops: Die Jugendlichen rechnen ihre Kosten für Essen, Trinken, Internet, Wohnung, Heizung, Ausgehen, Fahrt zum Arbeitsplatz und alle anderen anfallenden Kosten zusammen (was kostet das Leben pro Monat?). Wir geben Ratschläge bei der Höhe der Miete, den Wohnungsnebenkosten, denn das sind einfach Sachen, die sie nicht wissen können.

Und dann kommt der Strich: Was bleibt übrig oder was fehlt? Zu viel Ausgaben oder passt es? Kann oder will ich mich einschränken, oder habe ich den falschen Beruf gewählt? Unsere Jugendlichen nehmen etwas mit „für’s Leben“.

„Sie wussten es immer noch“

Während der letzten 10 Minuten unserer 1 1/2 stündigen Workshops sprechen wir immer über allgemeine Themen, dazu gehört auch die Allgemeinbildung. Viele Schüler sind nicht besonders vertraut mit Größen unserer Geschichte wie Bach und Goethe.

Und so stellte ich die Frage: Kann es sein, dass sich die beiden Männer kennen gelernt haben? Ich erzählte ein bisschen über die Musik von Bach, der 1750 gestorben ist und über die Werke von Goethe, der 1749 geboren wurde. Diese Zahlen und die Namen wiederholten wir nach 14 Tagen und alle Schüler konnten sich das merken.

Selbst 1 Jahr später wurde ich von Schülern darauf angesprochen, sie wussten es immer noch. Diese Übung sollte die Schülerinnen und Schüler daran erinnern wie man gelerntes wiederholt, damit es im Langzeitgedächtnis verankert wird. Sie haben es geschafft, und auch ein so kleines Erfolgserlebnis macht Mut.

„Das fällt mir ja leichter, als ich dachte“

In meine Workshops kommen Jungs, die technische Berufe ergreifen möchten. Wir erarbeiten technisches Wissen, üben Einstellungstests und hinterfragen, ob die vorhandenen Fähigkeiten für einen technischen Beruf, z.B. Mechatroniker, ausreichen. Um feinmotorische Fähigkeiten zu erproben, setzen wir einen Flugsimulator ein. Das Programm läuft auf einem Laptop, das Flugzeug wird per Beamer an die Wand projiziert, damit alle sehen können, wie der jeweilige „Pilot“ fliegt. Es ist immer wieder spannend zu erleben, wie sich die Jungs bei dieser Übung anstellen.

Da gibt es einen Jungen, der immer laut und sehr von sich überzeugt ist. Feinmotorische Fähigkeiten hatte ich ihm eher nicht zugetraut. Ich habe mich nicht getäuscht.

Und es gibt einen leisen, sehr höflichen Jungen, auf dessen Fähigkeiten ich gespannt war. Er war der beste „Pilot“ und sagte: „Oh, das fällt mir ja leichter als ich dachte.“ Großer Applaus und die Bestätigung, dass ein technischer Beruf wohl die richtige Wahl ist.
Das Mutmachen hat wieder mal funktioniert.

„Ich will Arzt werden“

Als wir uns im vergangenen September an der Gesamtschule am Gluckenstein den Schülern der 8. Klasse vorstellten, war für Abdul (15) schnell klar, wer sein SeniorPartner werden sollte. Ausschlaggebend war dabei, dass ich erzählte, wie ich auf dem Motorrad durch die USA gereist war. Abdul kam als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus Afghanistan nach Deutschland. Er will Arzt werden. Dafür lernt er fleißig, denn er weiß: Wenn man ein Ziel hat, dann fällt das Lernen leichter. Mit meiner Unterstützung hat Abdul ein Praktikum in den Hochtaunus-Kliniken absolviert. Demnächst geht es zum Praktikum in die Wicker-Klinik. Abdul muss seinen Weg alleine gehen, aber ich mache ihm Mut indem ich sein Selbstvertrauen stärke und ihm vermittle wie er soziale Kompetenz aufbauen kann. Jetzt steht der Abschluss der mittleren Reife an. Ich hoffe sehr, dass er diese erste Hürde schafft.

„Jetzt will ich es schaffen“

Eine fünf in Chemie ist jetzt erstmal nicht ein Problem. Kommt allerdings noch eine fünf in Englisch dazu, wird es schon schwieriger. Und vollends ungemütlich wird es, wenn es keinen Ausgleich aus einem Hauptfach gibt. Chemie und Englisch sind eher „Lernfächer“ und weniger „Verständnisfächer“ wie beispielsweise Mathe oder Physik. Das wissen unsere Schüler natürlich auch.

Was tun, wenn es trotzdem Probleme gibt? Sind es Lernblockaden, oder woran liegt es? Oft fehlt eine Hilfe: Wie soll ich lernen? Wie mache ich das am besten? Deshalb haben wir einen Workshop „Lernen wie man lernt“. Darin erklären wir Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis, wie man sich am besten neuen Stoff aneignet und wann man wiederholen muss. An Beispielen aus dem Periodensystem üben wir „Eselsbrücken“ für Metalle und Edelgase zu entwickeln.

Auch so können wir Mut machen, eine Hürde zu überspringen. Stellen sich dann Erfolge bei der nächsten Chemiearbeit ein, freuen wir uns über einen richtigen Motivationsschub bei unseren Schülern.

Jetzt widerspricht sie mir schon in verständlichem Deutsch“

Ich denke zurück: Ist das noch dasselbe Mädchen wie vor 18 Monaten? Damals war sie aus einer Stadt hinter dem Ural nach Deutschland gekommen. Sie war extrem schüchtern und sprach fast kein Deutsch. Seitdem lernt sie bei mir in einer Vierergruppe zwei Stunden wöchentlich hauptsächlich deutsche Grammatik. Jetzt widerspricht sie mir schon ohne zu zögern und in verständlichem Deutsch.

Nun gut, mit ein paar Fehlern spricht sie, zugegeben, aber welch ein Fortschritt in so kurzer Zeit! Da wir uns inzwischen besser kennen, konnte sie auch ihre Schüchternheit überwinden. Man spürt ihren Willen, vorwärts zu kommen. Ich weiß, dass ihre Eltern nachmittags noch zusätzliche Nachhilfestunden organisiert haben – auch in den Schulferien. Eine Sozialhelferin hatte schon ihre Klassenlehrerin angesprochen, dass man sie überfordern würde. Irrtum: Sie, mit ihren jetzt 16 Jahren, will das so, denn sie hat einfach Durchhaltevermögen und der schnelle Lernerfolg macht ihr Mut für die Zukunft.

Robert und das Internet, mein Feind

Ich hatte Robert zwei Jahre Nachhilfe in Deutsch gegeben. Dann hatten ihn seine Eltern aus der Haupt- in die Realschule hinaufgedrängt und ich verlor ihn aus den Augen. Plötzlich steht er auf dem Schulhof vor mir und fragt, ob wir nicht zusammen weitermachen könnten. Robert ist Pole und hat seinen Stolz – auch seinen Nationalstolz. Ich vermutete, er würde große Probleme mit dem höheren Niveau der Realschule haben. Vor gut zweieinhalb Jahren wusste er noch kein deutsches Wort! Ein Ausbund an Übermut und Großspurigkeit war er damals. Wie erwachsen er inzwischen scheint mit seinen 17 Jahren! Nun ja, ich mag ihn! Spontan sage ich zu.

Ein paar Monate geht alles gut! Er müht sich ab, Grammatikübungen durchzuhalten wie „Das Flugzeug fliegt über sein kleines Haus“ – aber „Ich stehe vor seinem kleinen Haus!“. Die deutsche Sprache sei zu schwer, beklagt er sich, arbeitet aber tapfer weiter. In seiner Klasse sind muslimische Schüler, die übersicher und lautstark den Islam als beste Lebensform anpreisen. Das regt ihn auf. Der arabische Flüchtlingsstrom und vor allem die hundertfachen Belästigungen deutscher Frauen durch Immigranten in der Kölner Silvesternacht erzeugen bei ihm einen emotionellen Ausbruch: „Wie kann das sein, dass die deutsche Polizei so schwach ist?“ fragt er. „Wieso wird von deutscher Seite die Islamistengefahr dermaßen unterschätzt“. Sein enormer Diskussionsbedarf entlädt sich über mich, seinen einzigen deutschen Gesprächspartner, wie ein Wasserfall!

Er rechnet mir die Vermehrung der Muslime in Deutschland vor. Wo kommen bloß diese detaillierten Argumente her, frage ich mich? Ich versuche, ihn von vorschnellen Pauschalurteilen und vor allem von wilden Verschwörungstheorien bezüglich der Muslime abzubringen. Unser Deutschunterricht leidet. Sollte ich unsere Diskussionen lieber abwürgen? Ich hoffte, dass unsere intensiven Gespräche ihn wenigstens zu mehr nüchternem, analytischen Denken anhalten. Dass er seine durch polemische, nationalistische Informationen aufgeregte Gefühlswelt in den Griff kriegt. Doch dann weiß ich es: Nationalistisch gefärbte polnische Internetplattformen sind ein „gefährlicher Feind“. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass sie einen so großen Einfluss auf Roberts Gedanken und Emotionen haben könnten. Plötzlich droht eine Deutsch-Klassenarbeit. Da kehrten wir konsequent zu unseren Deutschübungen zurück.

Robert hat die Realschule nicht geschafft, jedoch nur wegen der deutschen Sprache! Also alles vergeblich? Nicht ganz! Er hatte frühzeitig hier in Deutschland seine Grenzen gespürt, kehrte nach Polen zurück und macht jetzt – drei Jahre später – dort sein Wirtschaftsabitur. Er möchte in einer Firma arbeiten, die Aktivitäten in Deutschland hat. Seine Einladung zu einer gemeinsamen Wanderung im Riesengebirge, liegt vor mir auf dem Tisch.

Ein Jahr Australien

Ein halbes Jahr vor Schulende hatte Karl noch keine Ahnung, was er beruflich machen wollte. Seine Noten waren nicht die besten, aber den Abschluss würde er schaffen. Ich hatte schon lange den Eindruck, dass er mehr leisten könnte, irgendetwas stimmte da nicht. Dann erzählte er mir, dass er hessischer Karatemeister seiner Altersklasse war, dass seine Eltern ihm aber den Sport wegen schlechter Leistungen in der Schule verboten hatten. Auflehnung und Verbitterung also.

Ich dachte, dass ein soziales Jahr im Ausland hilfreich sein könnte. Das würde ihm Zeit verschaffen helfen, seinen Weg zu finden. Gemeinsam suchten wir im Internet, mit Telefonaten und Bewerbungsschreiben eine Stelle. Schließlich bekamen wir eine Zusage: Unterstützen des Sportunterrichts in einem internationalen Jugendcamp in Australien!! Besser ging es nicht, ich war happy.

Als wir uns 14 Tage später in der Schule trafen sagte er: „Ich hab´s mir überlegt. Ich gehe nicht nach Australien, sondern werde Koch. Aussicht auf einen Ausbildungsplatz habe ich schon. Ich will unbedingt auf eigenen Füße stehen.“

Nicht immer gehen Mutmachergeschichten gut aus, aber offesichtlich hat unsere Zusammenarbeit ihm doch Mut gemacht, eine Entscheidung zu treffen. Vier Jahr nach der Schule habe ich ihn getroffen: Er hat die Kochlehre mit einem guten Zeugnis abgeschlossen und studiert jetzt BWL an der FH Wiesbaden. 

Unsere Schülerinnen und Schüler

Heute habe ich wieder Workshop mit meinen vier Hauptschülern der Klasse H8 in der Schule am Gluckenstein, Bad Homburg. Wir sind fünf SeniorPartner und jeder wartet auf seine bis zu sechsköpfige Gruppe aus dieser Klasse. Gleich wird es klingeln und dann erwachen Eingangshalle, Treppen und Schulhöfe zu lautem chaotischen Leben. Wer wird wohl heute anwesend sein?

Der autistische deutsche Ian, der sich so sehr zusammenreißen muss, nur um normal kommunizieren zu können? Ich denke, er wird da sein! Ich mag ihn und er spürt es. Vielleicht auch deshalb hat er in den letzten Wochen seine übergroße Scheu etwas abgelegt oder ist es die einfachere Eingewöhnung in unsere Kleingruppe? Er war ja so ungeheuer stolz, als er mir vor zwei Wochen mitteilen konnte, dass er in Mathematik eine Eins geschrieben hatte. Ich habe ihm meine spontane Freude darüber offen gezeigt. Am Anfang wurde er von einer Betreuerin begleitet, die sich sorgte, dass ich ihn mit meinem Unterricht menschlich überfordere, ja vielleicht sogar psychologisch verletze. Zu instabil sei doch sein Selbstwertgefühl!

In unseren Gesprächen zeigte er Interesse am Gärtnerberuf. Zusammen mit einer Mitarbeiterin des Berufsbildungswerks (BBW) fanden wir eine Schülerpraktikumsstelle in einer Bad Homburger Gärtnerei. Ich besuchte ihn dort und merkte, dass er sich wohl fühlte. Ich war erleichtert. Vor zwei Wochen hatte ich für ihn einen Bildband mit englischen Parkanlagen und Berufsbeschreibungen von fünf verschiedenen Spezialisierungen im Gärtnerberuf mitgebracht. Heute wollte ich mit ihm darüber reden. Bei ihm habe ich ein gutes Gefühl. Ich glaube, er wird seinen Weg in eine Gärtnerei finden!

Ob Zidane da sein wird, weiß ich noch nicht. Das hängt ziemlich von seinem Verhältnis zu seiner Lehrerin ab, einer zierlichen, hübschen Frau. Zuerst hatte ich es nicht glauben wollen, dass sie – klein und jung wie sie ist – mit einer gemischten Klasse mit 27 Hauptschülern zwischen 14 und 16 Jahren fertig werden würde. 27 Schüler aus 19 verschiedenen Nationen, davon fünf mit Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache!! Aber sie schafft es, der ständigen latenten Disziplinlosigkeit in der Klasse einigermaßen Herr zu werden. Und das ohne laut zu sein! Das verstand ich nicht, bis ich begriff, dass sie über sehr viel Empathie für ihre Schüler verfügt. Und ihr instinktives Verhalten appelliert wohl auch an die Beschützerinstinkte der oft viel größeren Jungen. Ich habe große Achtung vor ihr! Warum Zidanes Schulbesuch so sehr von seiner Lehrerin abhängt? Nun, ohne sie würde er einfach die Schule schwänzen, was er früher ausgiebig tat. Zidane ist mit seinen sechzehn Jahren allein in Deutschland. Er hat absolut nichts Kindliches mehr. Mit seiner dunklen Haut, seinem zylindrisch geschnittenen Kraushaar und seinen dunklen Augen ist er das Gegenbild des blonden, blauäugigen, deutschen Jungen. Und er ist sehr verschlossen, wenn auch immer freundlich. Ich konnte bisher noch nichts über seine Flucht aus einer bitterarmen Randprovinz in Äthiopien erfahren. Ich spüre, er möchte nicht viel von sich hergeben, viel wichtiger ist ihm, dass ich ihn menschlich anerkenne, so wie er ist. Seine schulischen Leistungen sind ziemlich katastrophal. Dabei ist er nicht unbegabt, hat hohe soziale Fähigkeiten und eine natürliche Autorität. Bei Schülerkonflikten in der Klasse greift er ein und findet eine Lösung. Er sei ein Kämpfer, sagte er mir einmal. Seine Klassenkameraden sagen von ihm, er sei gerecht, überhaupt in Ordnung und habe „Power“. Wohl deshalb akzeptieren sie seine Schlichterrolle.

Er spürt die Liebe und Sorge seiner Lehrerin für ihn, sein Hauptgrund, überhaupt in die Schule zu kommen und – fast unglaublich – er beschützt sie. Wenn nämlich Schüler manchmal zu laut oder zu frech sind, schaut sie zu Zidan hinüber. Der steht dann wenn nötig auf, geht zu den Krawallmachern hin – und das reicht dann schon aus, obwohl er eher schmächtig aussieht! Ich habe ihn vor einigen Tagen kurz vor Mitternacht auf den Straßen Bad Homburgs getroffen. Er sagt selbst, er träfe sich mit Gruppen, die „nicht besonders gut“ sind. Über sein zweiwöchiges Schülerpraktikum bei einem Dachdecker hat er eine gute Beurteilung bekommen. Er hat gerne draußen gearbeitet, aber die Arbeit als Dachdecker empfand er als zu hart. Er möchte etwas anderes machen. Also suchen wir wieder von neuem. Ich mache mir Sorgen um ihn. Er hat irgendwie etwas Unberechenbares und ist zu viel auf sich allein gestellt.

Eyleen, ein pakistanisches, vierzehnjähriges Mädchen, in Deutschland aufgewachsen, wird sicher auch da sein, Sie macht noch ab und zu Blödsinn, ist aber schon in jeder Hinsicht eine Frau. Ihre innere Reife ist bemerkenswert, ihre schulischen Leistungen sind nicht schlecht, ihr soziales Einfühlungsvermögen bemerkenswert und sie ist sehr eloquent. Sie muss zuhause sehr häufig auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen, weil beide Eltern arbeiten. Das hat sicher dazu beigetragen, ihre Teamfähigkeit zu erhöhen. Man spürt, dass sie aus einer intakten Familie kommt. Rund 80% (!!) der Schüler in der oben beschriebenen Klasse leben mit nur einem Elternteil, meistens sind die Väter verschwunden. Eyleens Gerechtigkeitsgefühl und ihr Ahnungsvermögen, ob jemand sie anerkennt, ist sehr entwickelt. Fühlt sie sich ungerecht behandelt oder spürt sie die Geringschätzung eines Gegenübers, dann geht sie spontan in die Luft. Bei ihr ist die generell enorme Empfindlichkeit von Jugendlichen mit Migrationshintergrund (aber auch ohne!) besonders groß gegenüber mangelnder Anerkennung oder gefühlter Ungerechtigkeit. Das zeigte sich während ihrer zweiwöchigen Versuchszeit in der sehr gut eingerichteten Ausbildungsstätte des Berufsbildungswerks in Karben. Die Schüler probieren dort in Lehrwerkstätten Berufe praktisch aus. Sie war von einer leicht aggressiven Gärtnerin eingeteilt worden, draußen Pflanzen einzutopfen. Es war winterlich kalt und den Schülern war mitgeteilt worden, sie würden im geheizten Gewächshaus arbeiten. Sie waren daher alle zu leicht angezogen und sie hatten keine Arbeitshandschuhe. Die Gärtnerin ignorierte das und Eyleen wehrte sich wütend sofort als erste und verschwand im Gewächshaus. Ihre Lehrerin und ich, die wir hinzukamen, hatten Mühe, sie zu beruhigen.

Beruflich will sie noch immer sehr hoch hinauf. Ihr Traum ist Bankangestellte, doch mit Hauptschulniveau ist dies nicht erreichbar. Ich suche derzeit in Kooperation mit dem BBW nach Alternativen. Sie denkt daran, in der Realschule weiter zu machen. Ich glaube, mit etwas Betreuung könnte sie es schaffen!

Layla, pakistanischen Ursprungs, aber in Deutschland aufgewachsen, wird leider nicht da sein heute! Sie war die Vielversprechendste meiner Gruppe. Eloquent, logisch denkend mit schneller Auffassung und mit einer Ausstrahlung gegenüber Mitschülern, die klar erkennbar war. Sie hat große soziale Fähigkeiten. Mitschülerinnen kommen zu ihr, wenn sie Sorgen haben. Beim Gedanken an sie, kann ich mich trauriger Gefühle nicht erwehren! Vierzehn oder fünfzehn Jahre alt ist sie, wie ihre Freundin Eyleen eine fertige Frau und bildhübsch – aber welch‘ ein jugendliches Schicksal! Sie stammt aus einer muslimischen Familie, in der der Vater nach außen hin der paternalistische, autoritäre Chef ist. Innerhalb der Familie war aber die Mutter die wirklich starke Person, die die Familie zusammenhielt. Layla war emotionell sehr eng mit ihrer Mutter verbunden, sehr viel weniger mit ihrem Vater. Sie war eine Realschülerin mit guten Noten, ja sogar mit der Aussicht, in die Oberschule hinüber wechseln zu können – wie ihre ältere Schwester, die derzeit ihr Abitur vorbereitet. Da geschah die Familienkatastrophe: Ihr Mutter starb plötzlich. Layla war dermaßen betroffen und durcheinander, dass sie von der Realschule zur Hauptschule abgestuft werden musste, wo ich sie kennenlernte. Sie kam mit ihrem Vater nicht mehr zurecht, es gab häusliche Auseinandersetzungen. Ihr Vater war nicht nur durch sein plötzliches Alleinsein überfordert. Er ist zudem arbeitslos, wodurch er sich in seiner Ehre gekränkt fühlt. Als ich ihn zufällig kurz kennenlernte, war klar spürbar, dass er sich um seine Tochter Sorgen machte, was Layla als zu enge Bevormundung empfand. Es war auch wohl der klassische Konflikt muslimischer Mädchen in der BRD. Sie leben oft in der Familie extrem bewacht und sehen die freiere Lebensweise ihrer Klassenkameradinnen. Sie fing an, die Schule zu schwänzen und verschwand dann tagelang, ohne Nachricht zu hinterlassen. Ihr Vater ließ sie polizeilich suchen. Schließlich meldete sie sich aus Düsseldorf, wo sie bei entfernten Verwandten aufgetaucht war. Leider hat die Schulverwaltung der GAG sie wegen dieser Vorgeschichte an die Feldbergschule in Friedrichsdorf abgegeben. Ich hatte sie während der letzten Wochen mehrere Male zuhause angerufen, um ihr zu sagen, dass sie mich jederzeit erreichen kann, wenn sie einen geduldigen Zuhörer benötigen sollte bzw. jemanden, der ihr individuelle, kostenlose Nachhilfe durch den vij vermitteln kann. Doch es gab kein Lebenszeichen von Layla. Dann plötzlich ein Anruf von ihr, sie würde sich gern mit mir treffen wollen. Wir trafen uns in Friedrichsdorf vor der Feldbergschule und aßen zusammen im nahen chinesischen Restaurant. Ich war erstaunt, dass sie tatsächlich als Muslimin mit mir allein in ein Restaurant gehen würde. Aber sie hatte das ganz schlau eingefädelt. Sie kam zusammen mit einem muslimischen jungen Mann. Während wir in dem offenen Restaurant aßen, hielt er sich dezent im Hintergrund – aber seine Rolle als Aufpasser schien mir klar. Wir haben uns nachher bei der „Übergabe“ von Layla von Mann zu Mann freundlich begrüßt! Während des Essens schüttete Layla mir ihr Herz aus: Sie würde ja gerne wieder regelmäßig in die Schule kommen, aber sie habe manchmal Tage, da könne sie einfach nichts bewegen. Zuhause würde ihre Schwester sie ständig als unfähig kritisieren. Ihr Verhältnis zueinander wäre schrecklich. Ihr Verhältnis zu ihrem Vater wäre inzwischen etwas besser, er würde sich einfach resigniert in sich zurückziehen und darunter leiden, dass er sich wie ein Versager vorkommt. Auch in der pakistanischen Verwandtschaft, soweit sie hier in Deutschland lebt, ist er isoliert. Während des Gesprächs kam heraus, dass sie schon seit einigen Jahren extrem starke Schlafstörungen hat. Selbst ihre Einlieferung in ein Schlaflabor hatte nicht viel gebracht. Manchmal schläft sie in einer Nacht gerademal drei Stunden! Wir überlegen zusammen, was sie gegen ihre dominante, wenig rücksichtsvolle Schwester tun könnte. Sie hat sich sicher gefreut, sich einmal aussprechen zu können und sie weiß, sie kann jeder Zeit wieder anrufen. Sie machte derzeit einen menschlich etwas stabileren Eindruck und schreibt gute Noten. Trotzdem weiß ich nicht, wie es weiter gehen wird. In ihrem Fall gleiche ich eher einem Tropfen auf einem heißen Stein.

Namen wurden natürlich geändert.